„Wir haben irre viel zu verlieren.“

Ein Gespräch mit Carsten Knop, einem der Herausgeber der FAZ, über Veränderung. Über Holzwege, Fortschrittsgläubigkeit und Videokonferenzen im Jogginganzug. Und – warum wir 2074 erneut sprechen müssen.

Die FAZ ist alte Schule. Gäste werden wie selbstverständlich am Aufzug abgeholt. Carsten Knop, Herausgeber der Traditionszeitung, erklärt sich, ohne dass der Verwunderung über die Stille und Ruhe Ausdruck verliehen wird: „Heute sind viele im Homeoffice. Deshalb ist es hier so leer.“

Sein Büro in der erst vor wenigen Monaten neu bezogenen Bleibe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist nüchtern. Es ist ein Eckbüro. Bescheiden. An der Decke sind Rohre und nackter Beton zu sehen. „Modern“, sagt er, sei das. An der Kopfseite des Büros hängt ein Foto. Das Bruce-Springsteen-Konzert vor ein paar Monaten in Hamburg.

Momente: Herr Knop, wenn Sie heute einem Menschen, der 50 Jahre auf einer einsamen Insel gelebt hat, erklären sollten, was alles so los war. Was wären die drei wichtigsten Dinge seit 1974?

Carsten Knop: Ich würde ihm das Internet versuchen zu erklären. Und das mobile Internet, wie eng die Welt zusammengewachsen ist. Wir können jederzeit und überall Nachrichten aufnehmen und selbst auch verbreiten. Mit unglaublichen Auswirkungen auf jeden selbst und die Gesellschaft als Ganzes. Und die Revolution in Biotech.

Momente: Mauerfall? Klimawandel? Dass in den USA ein Immobilienunternehmer ins Weiße Haus einziehen konnte. Krieg in Europa? 

Knop: Nein. Ich glaube, die technologische Revolution ist das Wichtigste. Die bleibt. Kriege gab es auch schon vorher. Und dass die Welt nicht mehr so ist wie sie war, ist auch nichts Neues. Und ja die Mauer ist weg, aber die Grenze ist in den Köpfen vieler Menschen leider immer noch da.

Momente: Dass die Erde krank ist und wir alles Gewohnte ändern müssten …

Knop: Hätte man 1974 schon wissen oder zumindest erahnen können … Wann war Club of Rome?

Das will er jetzt genau wissen. Es wird gegoogelt, während die nächste Frage formuliert wird.

Momente: Er hätte es wissen können. Vielleicht ja. Hätte er es auch ernst genommen? Nehmen wir den Klimawandel ernst? Oder feiern wir die Party bis zum Game over?

Knop: Das nehmen schon viele Menschen sehr ernst. Aber die Staaten handeln nicht entsprechend. Ich finde das deprimierend. Die Lösung liegt nicht darin, dass wir hier Müll trennen, sondern in einem gemeinsamen globalen Verständnis, dass, wenn wir untergehen, alle gemeinsam untergehen.  

Momente: Europa und Deutschland gehen forsch voran. Europa soll grün sein, und in Berlin regieren die Grünen zumindest mit…

Knop: Wir sind da auf dem Holzweg. Weil wir vieles jetzt wollen, ohne auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu achten. Das geplante Abschalten der Atomkraftwerke nach Fukushima war sicher ein Kardinalfehler und eine einzige Paniksituation. 

Momente: Fand aber eine Menge Zustimmung seinerzeit. Die Bilder aus Japan zeigten verheerende Zerstörungen. 

Google liefert prompt und zuverlässig. Das Buch Club of Rome ist 1972 erschienen. Das hätte unser Mann also eigentlich mit auf der verschollenen Insel haben können. 

Momente:  Aber wer ist der Souverän, wo ist der Souverän, der nun dem aufstrebenden Mittelstand in China, dem neuen Bürgertum in Indien erklärt: Tja, Leute, tut uns leid, aber eure Konsumlust geht uns zu sehr auf Kosten des Planeten. Bleibt mal lieber in euren Lehmhütten.

Knop wird energisch. Die Stimme wird laut. Er lehnt sich über den Tisch. 

Knop: Ja genau, und das kann doch wohl nicht die Lösung sein. Wer sind wir denn? Den Politiker oder das Gremium gibt es nicht. Und das ist auch ganz gut so. Jetzt könnte man daraus den Schluss ziehen, dass das alles sehr frustrierend ist. Man kann aber auch – und deshalb habe ich auch eingangs den technologischen Fortschritt als wichtigste Nachricht genannt – genau darin die Lösung sehen. Und da könnte Deutschland eine wichtige Rolle spielen, aber bei all der Gängelung der Unternehmen und dem Wahnsinn der Bürokratie würgen wir doch jede Innovationsfreude im Keim ab. 

Momente: Wollen wir beim Thema bleiben? Warum soll ich meinen 500-PS-Geländewagen in der Garage stehen lassen, wenn in China die Schlote rauchen?

Knop: Genau das ist ja auch der Fall. In Deutschland sind noch nie so viele Autos unterwegs gewesen, wie aktuell. Besonders beliebt der Stadt-Geländewagen. Die Debatte ist also das eine, die Realität des Handelns das andere. In diesem Jahr wurde ein neuer Rekord beim Verkauf von Öl- und Gasheizungen in Deutschland erzielt. Was die Debatte zu viel an Hysterie hat, hat das Handeln deutlich zu wenig.

Momente: Will heißen: Wir werden uns darauf besinnen müssen, mit den Wetterextremen leben zu müssen. So wie in Dubai oder Saudi-Arabien, wo das öffentliche Leben fast ausschließlich unter Glas und in klimatisierten Räumen stattfindet?

Knop: Das ist genau mein Punkt. Wie leben wir damit? Und da geht es nicht nur um Starkregen und Orkane auf der Ostsee, sondern auch um Bevölkerungswanderung, wenn große Teile Afrikas zum Beispiel nicht mehr bewohnbar sein werden.

Momente: Machen wir uns was vor?

Knop: Wir machen uns kein Bild. Deutschland wird mutmaßlich ein wenig mediterraner. Die Winter werden milder, vielleicht können wir irgendwann in absehbarer Zeit Palmen in unsere Gärten pflanzen… 

Draußen am Fenster wandert eine Wespe. Es ist ein Tag Mitte Oktober. Um 11.30 Uhr misst das Thermometer 23 Grad Celsius. Die Sonne steht hoch am blauen Himmel.

Momente: …angeblich sichern sich wohlhabende Menschen derzeit Latifundien in Skandinavien und Neuseeland. 

Knop: … keine Ahnung. Aber die Flucht in die Wälder Schwedens kann doch auch keine Lösung sein.  Ich will mich nicht wiederholen, aber ich sehe einigermaßen große Chancen im Technikfortschritt. Wir sehen doch schon jetzt, dass neue Technologien deutlich weniger CO2 verbrauchen oder immer weniger fossile Rohstoffe zum Einsatz kommen. Was allein in der Agrarwirtschaft passiert, ist wirklich beachtenswert, wenn es zum Beispiel um die Resilienz von neuen Pflanzen geht. Wenn ich also bislang ein wenig pessimistisch geklungen habe, dann gibt das einen falschen Eindruck. Grundsätzlich bin ich Optimist. Wahrscheinlich gibt es irgendwo auf der Welt Menschen, deren Ideen uns am Ende doch noch vor dem Worst Case retten.

Momente: Hätten Sie einen Namen…

Knop: Leider nein. Aber die Hoffnung darauf. 

Momente: Ihr Optimismus in Ehren, aber machen Sie die Rechnung nicht ohne den Wirt? Also uns? Anstatt gemeinsam die Welt zu retten, fällt den Menschen nichts Besseres ein, als sich ständig gegenseitig auf den Kopf zu hauen.

Knop: Man könnte fast meinen, dass es ein Wunder ist, dass es uns Menschen überhaupt noch gibt. Die Geschichte der Menschheit ist auch die Geschichte von gegenseitigem Neid, von Missgunst und Tyrannei. Und wir haben auch noch die Mittel erfunden, um uns alle mit einem Schlag auszulöschen. Aber zum Glück haben wir noch nie auf diesen Knopf gedrückt. 

Momente: Wir schweifen schon wieder vom Thema ab. Erst Covid, dann Krieg. Sie sprachen gerade von ihrer Fortschrittsgläubigkeit. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass Deutschland insgesamt an Long-Covid leidet, das wie Mehltau über diesem Land liegt?

Knop: Wir sind wahnsinnig reich. Die vergangenen Jahrzehnte des Wachstums haben zu einem atemberaubenden Wohlstand geführt. Das heißt: Wir haben auch irre viel zu verlieren. Und daraus resultiert ein Gesellschaftscharakterzug, der Besitzstandswahrung heißt. Und wer nur daran interessiert ist, das zu bewahren, was er hat, geht nicht ins Risiko, übernimmt keine Verantwortung und denkt nicht neu. Wir haben es auf eine auch mir unerklärliche Art und Weise geschafft, das deutsche Erfinder-Gen so zu reduzieren, dass es kaum mehr wahrnehmbar ist. Nur ein Beispiel: Die von mir eingangs genannten Technologiesprünge finden ohne deutsches Zutun statt. 

Momente: Veränderung braucht Mut und Lust auf das Neue. Mut zum Risiko, Mut zum Scheitern.

Knop: Ja, das ist irgendwie weg.

Momente: Sind wir zu satt?

Knop: Das ist mir zu pauschal. Immerhin gibt es eine Menge Leute in diesem Land, die bis zum Umfallen arbeiten. 

Momente: Deshalb geistert ja seit längerem die Debatte um Arbeitszeitverkürzung und Vier-Tage-Woche durch Deutschland. Der richtige Weg?

Knop: Ich schaue da von einer anderen Seite drauf. Was machen wir denn mit der Mehr-Zeit für uns? Brauchen wir nicht einen strukturierten Tag, an dem wir morgens aufstehen und unserer Arbeit nachgehen? Indem wir uns als erstes mal ordentlich anziehen und dann auf den Weg zur Arbeit machen? Das Homeoffice, die Videokonferenzen haben gezeigt, dass das nicht bei allen dazuführt, dass sie auch in dieser Phase den Gepflogenheiten des Arbeitsalltags entsprechen.

Momente: Sie sprechen von Videokonferenzen im Schlafzimmer oder Jogginganzug?

Knop: Ich spreche von strukturierten Tagesabläufen. Die geben uns Halt, die verlangen nach Ordnung. Vom Pünktlichsein, vom Vorbereitetsein, von mir aus auch von der Kleiderordnung. Ich habe so ein Gefühl, dass mehr Freizeit nicht zwingend dazu führt, dass wir auch zu 100 Prozent in unserem Job sind und bereit etwas zu leisten.

Momente: Wer etwas leisten will, bekommt dafür keine Lorbeeren mehr.

Knop: Eher Neid. 

Momente: Herr Knop, was würden Sie fragen, wenn ich Sie 2074 von einer Insel abholen würde?

Knop: Wie geht es meiner Familie? Was ist aus meinen Kindern geworden? Haben wir einen Weltkrieg gehabt? Und dann würde ich Sie fragen, was aus Ihrer Sicht das Wichtigste war, was Sie mir unbedingt erzählen müssen. 

Momente: Darauf wollen Sie jetzt nicht wirklich eine Antwort.

Knop: Nee. Wir sprechen 2074.

Ein Blick auf das Bild vom Bruce-Springsteen-Konzert, vergangenen Sommer in der Hamburg-Arena. Das Foto zeigt ein zum Bersten volles Stadion. „Was fällt Ihnen auf?“, fragt Knop und will auf eine Antwort gar nicht lange warten. „Schauen Sie hier, am unteren Rand im Stehbereich. Da hält sich ein junges Paar im Arm. Das sind die einzigen, die das tun. Wenn ich in Hamburg arbeiten würde, hätte ich die beiden interviewt.“