Holger Biermann pflegt eine Kunstform, die es eigentlich nicht mehr gibt: Er ist Straßen-Fotograf. Er setzt nichts in Szene, sondern überlässt seine Kamera dem Zufall. Für uns streifte der Berliner Junge monatelang durch Frankfurt und Umgebung, schoss Tausende von Momenten, verliebte sich in Frankfurt und erntete mit seinem Werk Standing Ovations auf unserer Vertreterversammlung.
Herzliche Grüße aus Frankfurt, wo die Linien der Stadt wie auf einem Fotopapier in der Dunkelkammer langsam in mir hervortreten. Ja, ich erlaube mir sogar diese Striche freihändig etwas auszuführen, zusammenzuziehen und zu verbinden wie bei einer kräftigen Bleistiftzeichnung, denn es reift mein persönliches Portrait.
Rund sechs Wochen bin ich inzwischen vor Ort, habe die meisten Stadtteile gesehen, bin die belebtesten Straßen gewandert und kenne viele Ecken in ihrer täglichen Veränderung unter der Woche und am Feiertag.
Wenn Paris (nicht nur architektonisch) das entzückende Wohnzimmer der Europäer ist, in dem nichts verändert und verrückt werden darf, und Berlin der verraucht feuchte Kellerraum, in dem die jüngsten Gäste nach der Techno-Party gerade etwas müde im Sessel hängen, dann ist dieses Frankfurt vielleicht das bunteste Spielzimmer des Kontinents.
Hier liegen für jeden ein paar Bauklötze bereit – für die kleinen wie für die großen Kinder. Und auch mich hat die Volksbank ja ganz bewusst zum Spielen mit der Kamera eingeladen.
Womit hier gezockt wird? Natürlich mit Geld, dem großen Möglichmacher. Die Banken, die Messe, der Flughafen, die (Chemie-)Industrie – sie alle haben über die Jahre leise und meist bescheiden hinter verschlossenen Türen eine echte Meisterschaft auf ihrem Feld erreicht und Wohlstand ins Zimmer geschaufelt, so dass inzwischen viele auf diesem Bauklotzhaufen mitspielen dürfen.
Wer durch Frankfurt wandelt, der muss diesen Hintergrund sehen. Nichts blüht von selbst, jede Pflanze hat ihre Bedingung. Sie wissen hier darum, seit nach `45 der ganze mittelalterliche Kaiserkrönungsplatz in Schutt und Asche lag. Danach kamen die Amis, haben Schokolade verteilt, und vorgelebt, was Hochziehen heißt. Ihre großen Kasernen sind inzwischen geräumt, geblieben und vererbt aber ist der „American Spirit“ samt Beatclubs, Bordellen und Rotlichtviertel am Bahnhof.
In Frankfurt darf man seitdem hinstellen UND wieder wegräumen. Gebaut wird für den Moment. Gerade weil die Stadt klein und immer auch eine Freie war und ist – so wie Bremen und Hamburg – kümmern sich die einflussreichen Familien vor Ort sehr um ihr teures Frankfurt, seine Stellung in der Welt und das Erscheinungsbild.
Neulich bin ich in der Nähe des Römers (Rathaus) zufällig in die Eröffnung eines angemieteten Ladenlokals geraten, in dem in den kommenden Wochen die „Zukunft der Innenstadt“ neu verhandelt wird. Im gepackt-vollen Raum mit dabei: Mike Josef, der neue Oberbürgermeister. Sie haben hier das Gefühl, dass im innersten Inneren etwas verändert werden sollte. Was immer es ist, es kommt dann wohl – so wie sie zuletzt das Europa-Viertel in nur fünf Jahren plus x aus dem Nichts gestampft haben. In der Einkaufsstraße „Zeil“, im tiefsten Zentrum Frankfurts, steht eine große Skulptur, die den siegreichen David thronend auf dem Kopf von Goliath sitzend zeigt.
So empfinden sie hier: Die Bank gewinnt immer. Sie waren schon alles, können alles werden, alle bezwingen. Höher, schneller, weiter fahren sie hier im Kreis – das ist seit den 70er Jahren Frankfurter Spielart. Selbst am Späti an der Paulskirche, von dem ich gerade schreibe, haben die jungen Gäste gerade die drei Tische vor dem Laden spontan einfach mal umgruppiert und statt quer jetzt in Reihe gestellt, weil am Wochenende stets ein paar mehr Freunde am Start sind. Per Handy spielen sie „viele dumme Lieder“ (ihr Ausdruck), zeigen sich gegenseitig ebensolche Videos und singen dazu. Ja, sie spielen sogar gleichzeitig an der Hauswand direkt neben an. Stellen sich zu viert auf dem Gehweg auf und werfen aus drei Metern Entfernung mit Münzen: Wer mit der Kohle am nächsten am Schaufenster landet, hat gewonnen und das herumliegende Kleingeld für sich. Früh übt sich, was ein Frankfurter werden will. Danach stoßen sie lachend im Dutzend an und singen erneut, lauter. Das große Glück im Spielzimmer – wer könnte sich da nicht mitfreuen.
Ich liebe diese Stadt.